Zum Namen Ramadān mit den Wortwurzeln رَمَضُ ramadu und رمضي ramadī gibt es in den arabischen Wörterbüchern unter Anderem folgende Erklärungen:
رمضي : ما كان في آخر الصيف وأوَّلِ الخريف
Was am Sommerende und bei Herbstbeginn ist
رَمَضُ : شِدَّةُ الحَرِّ Starke Hitze
الرَّمَضُ : المَطَر يأتي قُبُلَ الخريف Regen, der vor dem Herbst kommt
Der September ist der letzte Monat der hohen Temperaturen, im September beginnt die Zeit des Regens auf den von der Sommerhitze aufgeheizten Boden und im September fängt der Herbst an. Folgerichtig gibt es eine Reihe von Muslimen - für die der Lunisolar-Kalender maßgeblich ist -, die die begründete Meinung vertritt, dass der Ramadan jedes Jahr in den Zeitraum September-Oktober fällt, zumal es im September auch das Herbst-Äquinoktium (= Tagundnachtgleiche) gibt. Das heißt, überall auf der Welt sind die Tage annähernd gleich lang, so dass alle Muslime ungefähr gleich lang fasten, womit Allah für alle Muslime auf dem ganzen Globus ähnliche Voraussetzungen für das Fasten schafft. Im September gibt es den sogenannten „harvest-moon (Ernte-Mond)“, der Vollmond, der besonders groß, hell und mit rötlicher Färbung etwa drei bis fünf Tage lang zu sehen ist.
Das Wort Ramadān erscheint im Quran lediglich ein einziges Mal, und zwar in Sure 2:185, wo es heißt, dass während des شهر schahr Ramadān der Quran geoffenbart wurde und dass es in ihm Fasten gibt, wobei schon im Vers 184 mit den Worten أياما معدودات aiyāman ma´dūdāt auf die Dauer dieses Fastens hingewiesen wird.
Das Wort شهر schahr kann laut den Wörterbüchern und Lexika sowohl „Mond“ (Neulicht/Neumond oder Vollmond) als auch „Monat“ bedeuten. In der Bedeutung „Mond“ gibt es auch die Wörter قمر qamar , womit das astrale Objekt gemeint ist, هلال hilāl, womit die Mondsichel (Neumond, Halbmond und die weiteren Sichelphasen) bezeichnet wird, und بدر badr , womit der Vollmond gemeint ist. Das Wort schahr kann sich auf einen vollen Mondphasen-Zyklus beziehen und weist dann auf die Dauer eines Monats hin, es kann aber auch speziell auf die Phase Neulicht/Neumond oder Vollmond bezogen werden. Das Wort schahr im Quran muss also jeweils seinem Kontext entsprechend interpretiert werden.
Nehmen wir also einmal als erste Möglichkeit an, es handle sich in Sure 2:185 um den Monat. Das Wort شهر schahr in diesem Vers als Monat zu interpretieren macht dann Sinn, wenn man شهد schahida , was zunächst einmal „bezeugen“ oder „sehen“ heißt, in der Bedeutung „zugegen/anwesend sein“ versteht, was etymologisch legitim ist. In arabisch-arabischen Lexika und arabisch-deutschen/englischen Wörterbüchern wird Folgendes unter dem arabischen Verb شهد schahida erwähnt:
Hans Wehr: Zeuge sein; zugegen, anwesend sein; beiwohnen; sehen
Lane: He told or gave information of what he has witnessed or seen or beheld with his eye, he gave testimony, attestation or evidence, he bore witness, he gave decisive information or declared such a thing as knowing it.
Dict. and Glos. of Quran by Penrice: To be present at, in, or with (with acc.)
Vocab. of Quran by A. A. Nadwi: So whoever of you is present in the month he shall fast therein. [2:185]
Dict. of Quran by M. G. Farid: Whosoever of you is present at home in this month (2:186).
Mufradat ar Raghib:
الحضور مع المشاهدة إما بالبصر أو بالبصيرة وقد يقال للحضور مفردا
Anwesenheit mit Sehen, sei dies mit den Sinnen oder mental. Es wird auch gesagt, nur die Anwesenheit.
Muheet al-Muheet:
و في سورة البقرة فمن شهد منكم الشهر فليصمه. على معنى فمن كان منكم حاضرا مقيما غير سافر في الشهر فاليصمه أي فليصم فيه
In Sure Al-Baqara „Wer von euch also den Monat bezeugt/sieht/zugegen ist, soll ihn fasten“ bedeutet, wer von euch im Monat ortsansässig zugegen und nicht auf einer Reise ist, soll ihn fasten, d. h. soll in ihm fasten.
Unter der Voraussetzung, dass wir in diesem Vers unter شهر schahr „Monat“ verstehen, können wir also sagen, wer im Monat Ramadan ortsansässig und nicht Reisender ist, der soll in diesem Monat fasten. Allerdings können wir in diesem Fall das Verb شهد schahida nicht im Sinne von „sehen“ verwenden, da man ja einen Monat nicht sehen kann.
Wenn wir hingegen شهر schahr als „Mond“ verstehen, dann sind beide Bedeutungen von شهد schahida möglich: Wer den Mond sieht und während des Sehens des Mondes nicht auf Reisen ist, der soll zur Zeit der Mondsichtung fasten. Bei dieser Betrachtungsweise ergibt sich jedoch die Frage: Was ist mit „Mond“ gemeint, der Neumond oder der Vollmond?
Mehrere Gründe sprechen für den Vollmond: Der Neumond wird nur am ersten Tag seines Erscheinens als solcher bezeichnet, da er am zweiten Tag ja nicht mehr „neu“ ist. In Vers 184 ist aber hinsichtlich der Fastendauer die Rede von أياما معدودات *aiyāman ma´dūdāt , also von einigen Tagen. Im Arabischen steht der Plural, was bedeutet, dass es mindestens drei Tage sein müssen, und das trifft auf den Neumond nicht zu. (Für zwei Dinge oder Lebewesen gibt es im Arabischen eine besondere Form, nämlich den sogenannten Dual.) Der Vollmond und besonders der „Ernte-Mond / harvest-moon“ im September ist hingegen als solcher etwa drei bis fünf Tage als solcher wahrnehmbar. Zudem beginnt ein lunarer Monat nicht mit der Neumondsichel, die man sehen kann, sondern mit dem der Neumondsichel vorangehenden Neulicht, das man nicht sehen, allerdings berechnen kann.
Zu Gunsten der Bedeutung „Vollmond“ spricht aber auch Sure 97:3, wo von der Qadr-Nacht gesprochen wird, in der der Quran geoffenbart wurde. Qadr hat unter Anderem die Bedeutung ausgeglichenes Ausmaß oder Balance. Al-Qadr-Nacht kann also als die Nacht des Herbst-Äquinoktiums (die ausbalancierte Tagundnachtgleiche) angesehen werden. Von dieser Nacht wird gesagt, dass sie besser als 1000 شهر schahr ist. Ist dieser Ausdruck 1000 شهر schahr nur eine allgemeine Floskel für eine lange Zeitdauer oder ist hier etwas Spezifisches gemeint? Ich plädiere für das Letztere, und zwar aus folgendem Grund:
Das Zusammentreffen des Vollmonds mit der Nacht des Äquinoktiums geschieht auf Grund des Meton-Zyklus alle 19 Jahre und somit beispielsweise auch alle 76 Jahre. Und eben diese 76 Jahre umfassen 940 Mond-Monate (je 29,53 Tage lang). Es fehlen also 60 Monate von 1000. Wenn wir aber شهر schahr als Vollmond auffassen, müssen wir zu den 940 noch eine gewisse Anzahl hinzuzählen, da es in einigen Jahren mehr als zwölf Vollmonde und zudem in sieben von den 19 Meton-Zyklus-Jahren einen zusätzlichen Schaltmonat gibt, so dass wir also den in 97:3 genannten 1000 شهر schahr in der Bedeutung von Vollmond nahe kommen. Am 20. September 617 gab es übrigens den Fall, dass die Nacht des Herbst-Äquinoktiums eine Vollmondnacht war!
Im Vers 2:185 dürfte ergo für den Begriff شهر schahr der Bedeutung „Vollmond“ der Vorzug gegeben werden, das heißt, am Anfang des Verses 185 der Sure 2 ist es sinnvoll und konsequent zu sagen, dass der Quran in der Vollmondnacht des Ramadan geoffenbart wurde. Bei dieser Interpretation beträgt dann die Dauer des Fastens drei bis fünf Tage, also so lange, wie man den Vollmond („harvest moon“) sehen kann. Dies entspricht auch der Aussage am Anfang des Verses 184 أياما معدودات aiyāman ma´dūdāt (ein paar Tage)“, denn معدود ma´dūd bedeutet „eine begrenzte Anzahl“, „ein paar“ oder „wenige“.
Wie oben bereits erwähnt, soll der Ortsansässige und Nicht-Reisende im Ramadān respektive während des Ramadān fasten, also je nach Auffassung im Monat Ramadān oder während der Vollmondphase im Monat Ramadān (siehe oben das Lexikon Muheet al-Muheet und das Wörterbuch Dict. and Glos. Of Quran by Penrice: To be present at, in, or with (with acc.) und Vocab. of Quran by A. A. Nadwi: So whoever of you is present in the month he shall fast therein. [2:185]. Der Quran sagt expressis verbis mithin nichts davon, dass wir den ganzen Monat Ramadān lang fasten sollen. Er spricht von أياما معدودات aiyāman
ma´dūdāt.
In diesem Zusammenhang hilft uns das Buch „ إعراب القرآن الكريم وبيانه “ (Desinentialflexion [grammatische Analyse der Flexion eines Wortes in Abhängigkeit von seiner Funktion im Satz] des ehrwürdigen Quran und deren Darlegung) weiter, in dem wir auf Seite 236 Folgendes lesen:
(فليصمه)
… والهاء ضمير الظرف، ولا ينصب على الظرفية، ولا يجوز أن يكون مفعولا به فهو منصوب بنزع الخافض، أي: فليصم فيه
(soll ihn fasten)
Das Pronomen „ihn“ hat adverbielle Funktion und wird nicht in den Akkusativ gesetzt; es ist nicht statthaft, dass es Akkusativ-Objekt ist, vielmehr ist es ein Genitivobjekt. Es bedeutet also: soll in ihm fasten.
Und auf Seite 235 desselben Buches heißt es:
صوموا أياما (معدودات) صفة للأيام …، والتنوين يفيد القلة تسهيلا على المكلفين
Fastet (einige) Tage: Adjektiv für das Wort Tage … und die Unbestimmtheit (= ohne bestimmten Artikel) weist auf die geringe Anzahl als Erleichterung für die zur Einhaltung religiöser Vorschriften Verpflichteten.
Fazit:
Rein sprachlich gesehen weist also eine Reihe von Belegen darauf hin, dass wir den Versen 184 und 185 der zweiten Sure entnehmen können, dass als Ausgangspunkt für den Beginn des Ramadān-Fastens der Ernte-Mond im Monat Ramadān gilt und die Dauer dieses Fastens sich danach richtet, wie lange derjenige, der das Fasten durchführen will, den Ernte-Mond sieht.
Im Jahr 2020 beginnt übrigens der Monat Ramadān am 17. September (gemäß Neulicht; die sichtbare Sichel erscheint am 19.9.) und der Ernte-Mond ist etwa ab dem 30. September bis zum 03. Oktober zu sehen.
Und Allah weiß es am besten!